Nachdem sein Segelboot in einen Sturm geraten ist, entdeckt Raúl eine kleine Insel, die auf keiner Seekarte eingezeichnet ist. Aus der Ferne sieht diese wie ein Kreidestrich aus, denn der kleine kalkige Felsenhaufen verfügt über einen überdimensional langen, ebenfalls weißen Pier. Neben einem erloschenen Leuchtturm, befindet sich nur ein Gebäude auf der Insel.
Dabei handelt es sich laut der Besitzerin Sara um “eine Gaststätte, Taverne, Herberge und Laden in einem, was gerade nötig ist.“ Neben Saras seltsamen Sohn Dimas ist nur noch die angehende Schriftstellerin Ana auf der Insel, die ebenfalls per Segelboot angereist ist. Da Raúl von der jungen Frau fasziniert ist, beschließt er noch eine Weile an dem seltsamen Ort zu bleiben.
Raúl blamiert sich bei seinen Annäherungsversuchen und wird nicht so richtig schlau aus Ana, die auf jemanden zu warten scheint. Sara wiederum befürchtet, dass bald ein drittes Boot anlegen wird, was bisher immer zu Ärger geführt hat. Tatsächlich eskaliert die Situation als zwei Männer auftauchen, die sich sehr rüpelhaft aufführen…
Der Galicier Miguelanxo Prado (Der tägliche Wahn, Ardalèn) ist als Zeichner ebenso genial wie als Maler. Wer seinen 1993 veröffentlichten Comic Kreidestriche einmal gelesen hat, vergisst weder die seltsame Atmosphäre auf der Insel, noch die knisternde erotische Spannung zwischen Raúl, Ana und Sara, die Prados Bilder so eindringlich eingefangen haben. Daher ist es sehr erfreulich, dass Cross Cult sich des mehrfach preisgekrönten Werkes angenommen und es nach 30 Jahren neu veröffentlicht hat.
Für diese schöne Ausgabe spricht auch der umfangreiche Anhang. Da das Ende des Comics offen blieb, hat sich Prado immer wieder mit seinen Geschichte und den Charakteren beschäftigt. So veröffentlichte er 1997 im Magazin À Suivre… einen zweiseitigen Epilog. Für dieselbe Publikation zeichnete Prado zwei Jahre zuvor eine Seite in der Corto Maltese auf Ana trifft.
Doch der Band enthält nicht nur diese Kurzcomics und zusätzlich noch eine im Magazin Spirou erschienene Hommage an André Franquin. Neben zahlreichen Skizzen und alternativen Titelbildern kommen auch noch einige großformatige Illustrationen zum Abdruck. Interessant sind auch Prados Kommentare zu diesen Bildern.
Eine Doppelseite zeigt Raúl und Sara, die beisammen in der Taverne sitzen. Prado meint dazu: “Die Beziehung zwischen den beiden Charakteren war stets angespannt, aber ich hatte das Gefühl ich schulde ihnen zumindest ein gemeinsames halbwegs versöhnliches Glas.“ Auch mit Ana trank Raúl auf einem Plakat für ein Comicfestival in der Champagne ein gemeinsames Glas, doch hier ist Prado realistisch: “Dieses Motiv schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, um beiden einen Moment zu schenken, den sie nie hatten.“
Heiner Lünstedt
„Miguelanxo Prado: Kreidestriche“ bei AMAZON bestellen, hier anklicken
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.