PENG!-Laudatio von Timur Vermes zu oh cupid von Helena Baumeister

Am 11. Juni 2023 wurden im Amerikahaus München die PENG!-Preise verliehen.

Alle Fotos: © Marcus Antritter

Die Auszeichnung für den besten deutschsprachigen Comic erhielt Helena Baumeister für oh cupid.

Hier die zugehörige Laudatio von Timur Vermes:

Wissen Sie, wie einfach es ist, einen Comic wegzulegen? Gerade einen wie „Oh cupid“. Gezeichnet mit Bleistift. Und es stimmt: Der Kopf will ja aufgeschlossen sein, aber das Auge voll so: oje, schwarz-weiß.

Und: nicht mal so niedlich wie Mangas.

Und dann: sicher anstrengend.

Das Schöne bei Helena Baumeister ist: Sie weiß das. Und auf der zweiten Seite, noch vor dem ersten Umblättern, platziert sie das Thema: Online-Dating. Ganz nüchtern. Ganz sachlich: Wischen. Aussortieren. Der ja. Der nein. Sie hat bisher drei Typen getroffen. Jetzt gleich trifft sie den vierten. Und wir gehen mit.

Jetzt lege ich den Comic nicht mehr weg.

Weil Helena Baumeister weiß, dass Sex ein gutes Thema ist.

Bevorstehender Sex.

Vielleicht bevorstehender Sex.

Die Vorbereitung auf vielleicht bevorstehenden Sex.

Wie sie am Ticketautomaten steht, und findet, dass so eine Fahrkarte ziemlich teuer ist – für vielleicht bevorstehenden Sex.

Und wie sie sich dann im Zug aufbrezelt. Da kommt dann der nächste Köder: Sie macht ihre Haare zurecht. Und plötzlich wursteln da nicht zwei Hände, sondern sieben. Trotz Bleistift gibt’s also unerwartete Bilder.

Sogar das schmollende Auge sagt: Okayyy… gibt’s davon noch mehr?

Gibt’s. Die Frau steigt aus, trifft den Typ. Der hat ein gigantisches Gesicht. Weil natürlich zuerst nur eins interessant ist: Wie sieht er aus? Wie aufm Foto?

Ganz gut, und zum Anfang wollen sie erst mal Radfahren. Weil, trotzt Internet, ist alles total unsicher. Und sie will sportlich wirken, und toll unterhaltsam sein, nicht schweigen, nicht plappern. Sie findet, sie gackert wie ein Huhn, und er schaut mit drei Köpfen zurück, und jeder beobachtet jeden. Ist das Lächeln echt, ist es nur kundenfreundlich? Sie redet zuviel, und plötzlich macht sich der Mund in ihrem Gesicht auf und davon. Die gezeichnete Helena sieht mal mädchenhaft aus, mal kartoffelig, babyhaft unerfahren. Und dann ist ihr klar: Diesmal gibt’s noch keinen Sex.

Aber wie sag ich’s ihm so, dass es noch ein zweites Treffen gibt?

Helena Baumeisters „Oh cupid“ ist kein Comic über Online-Dates: Sondern eine Live-Reportage. Mittendrin statt nur dabei: Das Fernsehen macht nur leere Versprechungen, Helena Baumeister löst sie ein. Vor dem Sex – und danach. Denn hinter all dem Geschwafel von der schnellen Online-Nummer steht auch die Sehnsucht nach mehr. Und nach dem Sex fällt die Entscheidung:

Wird übernachtet? Darf ich bleiben?

Wie lange?

Bin ich womöglich nicht nur begehrenswert, sondern vielleicht sogar liebens-würdig?

Nach der Prüfung ist vor der Prüfung.

Übrigens: Jetzt höre ich natürlich auch nicht zu lesen auf.

Weil sich unter den ganzen witzigen Details und Pointen ganz hinterlistig ein cleverer Kern herausschält. Die Enttäuschung über die Onlinewelt. Sollte sie nicht alles einfacher machen? Eindeutiger. Zuverlässiger. Unproblematischer. Tatsächlich verschiebt sich nur der Moment der Unsicherheit. Die Ängste und Bewährungsproben sind dieselben – sie finden nur zu anderen Zeitpunkten statt.

Und letztlich spürt der Leser: Helena 2023 ist so nervös wie Mama 1998, Oma 1968, Uroma 1938. Besonders elegant: Helena Baumeister sagt das nicht ein einziges Mal. Sie zeigt es. Witzig, berührend, manchmal bittersüß, aber immer unglaublich einfallsreich.

Show, don’t tell.

Und hier begreift auch das Auge, warum der Bleistift, den man jederzeit ausradieren kann, der oft so vorläufig und skizzierend wirkt, so ideal ist für eine Geschichte voller Unsicherheiten.

Perfekte, doppelbödige Unterhaltung auf blitzschnell verschlungenen 100 Seiten. Die die einzigartigen Möglichkeiten des Mediums ausnutzen: Denn was „Oh cupid“ mit uns macht, das kann in dieser Prägnanz kein Buch, kein Film, kein Hörspiel. Ich habe in diesem Jahr keinen deutschen Comic gesehen, der besser war.

Volltreffer!

 

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