Mit Columbusstraße ist Tobi Dahmen eine umfangreiche und in jeder Hinsicht wirklich gewichtige Graphic Novel geglückt. Die Geschichte beginnt etwa zu der Zeit, in welcher Berlin von Jason Lutes, der in seinem Buch den Niedergang der Weimarer Republik beleuchtet, geendet hat.
Entlang einer Familiengeschichte schildert Dahmen die Entstehung und den Untergang von Nazi-Diktatur und Drittem Reich. Er vermittelt durch persönliche Entwicklungen, Veränderungen und Schicksale seiner eigenen Familien aus Düsseldorf und Breslau Einblick in die Geschehnisse dieser Zeit.
Die ersten Passagen nutzt der Autor um die handelnden Personen bekannt und vertraut zu machen. Neben ein paar geäußerten Worten derselben genügen zarte Andeutungen – das minimale Ausrichten eines Bildes, die Korrektur einer Zierfeder – um sich ein Bild von der charakterlichen Ausprägung der Protagonisten machen zu können. Die durch die Diktatur bedingten Änderungen in Verhalten und persönlicher Sichtweise werden im Folgenden ähnlich dezent – stimmig und nachvollziehbar – dargestellt.
Dahmen nutzt persönliche Dialoge und eine zurückhaltende, klare Bildsprache um die ihm wichtigen Informationen zu transportieren: das Arrangement des gehobenen Bürgertums und der Industrie mit dem Nationalsozialismus, die frühe Kenntnis vom Konzentrationslager Dachau und in Summe eine Vielzahl weiterer interessanter geschichtlicher Fakten. Den klaren, fast lakonischen Strich in Weiß-, Grau- und Schwarztönen behält der Autor das gesamte Buch hindurch ebenso bei wie eine weitgehend klassische Anordnung der einzelnen Panels. Beides ist der Erzählung dienlich und öffnet den Blick des Lesers für das „Eigentliche“.
Gerne nimmt der Autor das Schlusspanel einer Sequenz um damit ein Ausrufezeichen zu setzen – oder aber dem Vorhergegangenen eine ganz andere Wendung zu geben. Ein auch gerne verwendetes Stilelement ist der bewusste Widerspruch von Text- und Bildwiedergabe. Exemplarisch stellt Dahmen in der Schilderung der Russlandfeldzüge, an denen zwei Söhne des eingangs vorgestellten Familienoberhaupts teilnehmen, die von ihnen verfasste abwiegelnde, um Normalität und Optimismus bemühte Feldpost nach Hause in deutlichen Gegensatz zu der gezeichneten Realität an der Front. Beim Lesen erzeugt dieses Aufbrechen und in Widerspruch stellen Betroffenheit und Beklemmung und macht die bedrückende Lektüre dennoch – selber erlebtes und erlesenes Paradoxon! – leichter annehmbar.
Überhaupt gelingt Tobi Dahmen über das ganze Buch hinweg der Spagat ausnehmend gut, einerseits die Leserschaft mitzunehmen in die persönliche Familiengeschichte dieser zehn Jahre von 1935 bis 1945, andererseits die objektiven und faktenbasierten Geschehnisse dieser Zeit akkurat und genau wiederzugeben. Ein interessantes und bereicherndes Leseerlebnis auf jeder Seite ist garantiert.
Dieses müsste nicht auf den einzelnen Leser beschränkt sein. Neben dem Inhalt und der Art diesen mitzuteilen, laden ein umfangreiches Glossar wie der angehängte Text-und Bildquellennachweis am Ende des Buchs geradezu ein, die Columbusstraße auch im Geschichts- und Ethikunterricht bei der Behandlung des Themas Nationalsozialismus mit zu verwenden. Es wäre wünschenswert, wenn möglichst viele Lehrkräfte diese Einladung annehmen könnten. Von der Dankbarkeit der Schüler bei einem solchen Schritt kann man sicherlich ausgehen.
Fazit: Was einst Thomas Manns Buddenbrooks für die Literatur war, könnte die Columbusstraße auf dem Feld der deutschsprachigen Graphic Novels werden. Das feinfühlig-pointierte Storytelling, die gelungene zeichnerische Umsetzung, die faktenbasierte Wiedergabe der historischen Dimension und vieles mehr machen das Buch zu einem großen Erzählroman, dem eine möglichst zahlreiche Leserschaft zu wünschen ist. Auf ein weiteres Buch aus seinem Familienkosmos – welches der Autor im Glossar versteckt andeutet – warte ich jedenfalls schon jetzt gespannt.
Uwe Sieber
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