Comics in Taiwan

Historischer Hintergrund

Die Inselnation Taiwan mit heute über 23 Millionen Einwohnern weist unterschiedliche kulturelle Wurzeln auf. Noch bis zu Anfang des 17. Jahrhunderts war Taiwan fast ausschliesslich von Ureinwohnern besiedelt, Sprecher austronesischer Sprachen, die heute nur noch rund 2% an der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Später wanderten in mehreren grossen Immigrationswellen chinesische Siedler nach Taiwan ein. Da diese ersten Siedler vornehmlich aus der Provinz Fujian auf der gegenüberliegenden Seite der taiwanischen Meerenge stammten, sprachen diese nicht eine Variante des später zur Landessprache gewordenen nordchinesischen Dialekts (Mandarin / Hochchinesisch), sondern lokale chinesische Dialekte/Sprachen, insbesondere das Taiwanische (Hokkien / Minnanhua 閩南話) und Hakka (Kejiahua 客家話).

Heute machen Han-Chinesen die absolute Mehrheit der Bevölkerung aus. Die Ureinwohner in den Ebenen assimilierten sich in die han-chinesische Kultur und vermischten sich grösstenteils mit den Han-Chinesen oder wurden in abgelegene Berggebiete im Landesinneren abgedrängt. Nur Volksstämme, die in abgelegenen Berggebieten im Landesinneren siedelten, konnten ihre kulturelle Eigenständigkeit bewahren.

1624 besetzten niederländische Seefahrer den Süden der Insel, auch spanische Seefahrer errichteten Stützpunkte.

Rasch wurde Taiwan unter der Verwaltung der niederländischen Ostindien-Kompanie zu einer niederländischen Kolonie. Es waren die niederländischen Kolonialherren, die chinesische Siedler anwarben und somit die erste grosse chinesischen Einwanderungswelle einleiteten.  Die niederländischen Kolonialherren wurden 1662 durch Koxinga (Zheng Chenggong) vertrieben, einem Kriegsherrn, Piraten, und Kaufmann chinesisch-japanischer Abstammung und Ming-Loyalisten. Doch die Ming-Dynastie sollte von den Mandschuren (Manzu), einem Nomadenvolk der Steppe, gestürzt werden, diese errichteten in China die Qing-Dynastie (1644 – 1922).

1683 annektierten die neuen Herrscher in Peking die Insel Taiwan. Nach dem verlorenen chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95 musste China die Insel Taiwan an Japan abtreten. Als Reaktion hierauf rief die ehemalige Provinzregierung Taiwans die Republik Formosa aus und widersetzte sich der Abtretung mit Unterstützung von Teilen der Bevölkerung, so dass Japan die Insel in einem mehrmonatigen Feldzug erobern musste.

Taiwan blieb bis 1945 japanische Kolonie. Im Jahr 1919 wurde die Bevölkerung auf ungefähr 3 Millionen Han-Chinesen, 100.000 Japaner und 120.000 Angehörige indigener Völker geschätzt. 1945 wurde Taiwan nach der japanischen Niederlage gemäß den alliierten Kriegszielen (Kairoer Erklärung) in die damalige Republik China unter Führung von Chiang Kai-shek (Pinyin: Jiang Jieshi 蒋介石) eingegliedert und Kuomintang-Truppen besetzen die Insel, während auf dem chinesischen Festland der Bürgerkrieg zwischen der regierenden Kuomintang (KMT) und den chinesischen Kommunisten wieder entbrannte. Die Truppen der Republik wurden von den Taiwanern zunächst begeistert begrüßt, doch kam es wegen allgegenwärtiger Korruption, galoppierender Inflation und wirtschaftlichen Niedergangs rasch zu Spannungen zwischen Taiwanern und der von der Kuomintang-Regierung eingesetzten Verwaltung, die sich beim Zwischenfall vom 28. Februar 1947 in einem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand entluden. Es kam zu einer Terrorwelle Weißer Terror gegen die taiwanische Bevölkerung, der nach heutigen Schätzungen um die 30.000 Menschen zum Opfer fielen.

Da Taiwan unter japanischer Herrschaft einen erheblichen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hatte, waren die Lebensbedingungen besser als auf dem kriegsverwüsteten Festland. Dies und der Umstand, dass viele Taiwaner in der japanischen Armee hatten kämpfen müssen und fliessend Japanisch aber kaum Hochchinesisch sprachen (die japanischen Kolonialherren hatten vorgehabt, die Taiwaner zu japanischen Staatsbürgern umzuerziehen), sorgte in der Kuomintang-Verwaltung für Missverständnisse und für Spannungen und Gefühle der Entfremdung zwischen Alteingesessenen und den neuen Immigranten. Japanische Besitztümer wurden beschlagnahmt und auf das Festland geschafft; die Verwaltung war korrupt. Dies führte auf Seite von Grossen Teilen der Alteingesessenen zu grosser Verbitterung.

1949 floh die Kuomintang-Regierung unter Chiang Kai-shek (Pinyin: Jiang Jieshi 蒋介石) nach ihrer Niederlage im chinesischen Bürgerkrieg vom chinesischen Festland auf die Insel und machte die Stadt Taipeh zu ihrem Regierungssitz. Mit ihr kamen 1949 etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge aus allen Teilen Festlandchinas nach Taiwan, die mit ihren Nachkommen heute ungefähr 14 % der Bevölkerung stellen und in der taiwanischen Gesellschaft als Waishengren 外生人 („Ausserhalb Geborene“) bezeichnet werden. Diese Waishengren sollten bis zur Demokratisierung in den 80er Jahren für Jahrzehnte Stellen in Verwaltung und Politik dominieren, alteingesessene Taiwaner blieben grösstenteils davon ausgeschlossen.

Durch mittlerweile weitverbreitete Mischehen werden ethnische Kategorien wie Waishengren jedoch in absehbarer Zukunft verschwinden. Die Kuomintang (KMT) regierte die Insel über vier Jahrzehnte als autoritären Einparteienstaat. Trotz des repressiven politischen Systems kam es in Taiwan zu einem Wirtschaftswunder, einer rapiden Industrialisierung und schliesslich Hochtechnisierung des Landes. 1987 hob die KMT das Kriegsrecht auf, die erste Oppositionspartei, die Demokratische Fortschrittspartei (DFP) wurde gegründet. Die lange aus Schulen, Behörden und Rundfunk verbannten Lokalsprachen, insbesondere das Taiwanische, erlebten eine Renaissance. Auch gibt es seit Mitte der 1990er Jahre Bestrebungen, die Kultur und die Sprachen der Ureinwohner zu bewahren.

Taiwan ist heute eine funktionierende Demokratie mit einer lebendigen Parteienlandschaft – die weltweit einzige Demokratie in einem Land mit Han-chinesischer Mehrheitsbevölkerung – , in der, wie eben in Demokratien üblich, viel und kontrovers gestritten wird. Präsidenten und Parlamentsabgeordnete werden in freien Wahlen direkt gewählt

Enge kulturelle und ethnische Verbindungen zum chinesischen Festland sind unbestreitbar und werden bestehen bleiben. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Taiwan heute de facto um einen unabhängigen Staat, auch wenn dieser aufgrund des Drucks durch die VR China international nicht anerkannt wird.Es bleibt zu hoffen, dass Taiwans Leuchtturmwirkung bei Demokratisierung und Bürgerrechten einmal auf das chinesische Festland ausstrahlen wird.

Die Renaissance des taiwanischen Comicschaffens

Aufgrund des von 1947 bis 1987 verhängten Kriegsrechts und dem zwischen 1966 bis 1987 bestehenden Zensursystem unter einer Militärdiktatur waren die Entwicklungsmöglichkeiten von Presse und Medien zunächst stark eingeschränkt. Darunter litt auch die Entwicklung des taiwanischen Comics. In den 80er Jahren setzte jedoch eine rapide Demokratisierung Taiwans und damit einhergehende Öffnung der taiwanischen Gesellschaft ein.

Es kam zu einem Boom im taiwanischen Verlags- und Medienwesen wie auch im taiwanischen Film. Der taiwanische Comic erlebte zwischen den  80er Jahren und der ersten Hälfte der 90er Jahre eine grosse Renaissance, die von taiwanischen Kritikern auch als „Goldenes Zeitalter“ des taiwanischen Comics bezeichnet wird. Zu den wichtigsten damals hervorgetretenen Akteuren im taiwanischen Comcischaffen gehören (Pinyin-Laufumschrift mit Langzeichen in Klammern):

Chen Uen (Zheng Wen 鄭問): Vorliebe für historische Stoffe aus der langen chinesischen Geschichte und tragische Helden

Au Yao-Hsing ( Ao Youxiang 敖幼祥): Schrille Komödien, schräger Humor

Tsai Chic-Chung (Cai Zhizhong 蔡志忠): Neuinterpretationen klassischer Werke der chinesischen Philosophie und Literatur

Zhu Deyong 朱德庸: beissende Satiren, Lieblingsthema: Beziehungen zwischen den Geschlechtern

Richard Metson (Mai Renjie 麥仁杰): Erotik und (in einem berüchtigten Album „黑色大書 Big Black Book“) sadistischer Humor

Cheng Hung-Yao (Chen Hongyao 陳弘耀): Phantasy und Science Fiction

Loic Hsiao (Xiao Yanzhong 蕭言中): Humor

PUSH COMIC (Ah Tui 阿推): Science Fiction

Pinfan (Pingfan 平凡): Fotorealismus

Shuiping Jingyu 水瓶鯨魚 / Alice Chang: schildert auf melancholische Weise unglückliche Liebesbeziehungen, Beziehungen zwischen den Geschlechtern

Der taiwanische Comic in der Krise

In der Mitte der 90er Jahre geriet der taiwanische Comic in eine Krise.

Ursache dafür war der rapide kommerzielle Siegeszug japanischer Comics auf dem taiwanischen Markt und die gleichzeitige einengende Kleinheit des eigenen taiwanischen Heimmarktes, wodurch eine Existenz als Comiczeichner erheblich erschwert wird.

Einige taiwanische Comickünstler wurden von japanischen Verlagshäusern abgeworben und produzierten fortan für den japanischen Markt (etwa Chen Uen, Pinfan), andere taiwanische Künstler wandten sich dem viel grösseren Markt auf dem chinesischen Festland zu und nicht wenigen Taiwanern gelingt es immer wieder, dort die Bestsellerlisten zu stürmen (Beispiele hierfür sind Ao Youxiang, Zhu Deyong oder ab den späten 90er Jahren der Bilderbuchkünstler Jimmy Liao 幾米).

Gerade in diese Krisenzeit fiel aber auch der Aufstieg eines Giganten, des Bilderbuchkünstlers Jimmy Liao 幾米. Er erschuf ab 1998 als Erster Bilderbücher für ein ausschliesslich erwachsenes Publikum und wurde nicht nur in Taiwan sondern auch in Festlandchina und anderen ostasiatischen Ländern zum Publikumsmagneten. Mittlerweile hat er in ostasiatischen Ländern eine ganze Reihe junger künstlerischer Nachahmer gefunden, die ebenfalls Bilderbücher für erwachsene Leser kreieren.

Der taiwanische Comic im Aufwind / neueste Tendenzen

Mittlerweile befindet sich das taiwanische Comicschaffen jedoch wieder im Aufwind. Eine neue Generation junger Künstler ist hervorgetreten, dies sind oft Absolventen von Kunsthochschulen, wie etwa die junge Künstlerin 61Chi, eine der viel versprechendsten jungen Talente.

Zu den jüngsten Trends und Tendenzen gehören:

Viele Comicschaffende wenden sich vermehrt lokalen Themen, der lokalen taiwanischen Kultur und der taiwanischen Geschichte, zu. Man könnte vielleicht auch sagen, sie begeben sich auf die Spurensuche nach ihrer eigenen Identität, den eigenen Wurzeln.

In diesen Comics werden daher zur Betonung des Lokalkolorites auch vermehrt Dialektausdrücke aus dem Taiwanischen verwendet .

Als Beispiele hierfür lassen sich Son of the Sea (Hai zhi zi 海之子), eine Familiensaga um Vater und Sohn, des jungen Künstlers Chen Jian 陳繭 nennen, die in einem Fischerdorf an der Küste spielt.

Oder die Comics von Ruan Guangmin 阮光民 , der seine Geschichten um kleine Geschäfte oder Betriebe auf dem Lande ansiedelt und sich für die Schicksale und Lebensentwürfe der kleinen Leute in der Gesellschaft interessiert. Oder die autobiographisch und zeithistorisch inspirierten Werke eines Sean Chuang 小莊.

In Koxinga Z 國姓來襲 erzählt Li Lung-Chieh (Li Longjie 李隆杰) vom Freiheitskampf des Koxinga gegen die niederländischen Kolonialherren.

Das zweibändige Comic Scrolls of a Northern City 北城百畫帖 der Künstlerin Akru hingegen ist während der japanischen Kolonialzeit angesiedelt und schwelgt in Nostalgie für diese vergangene Zeitepoche.

Des Weiteren sind beim taiwanischen Publikum aktuell Geschichten sehr beliebt, die sich mit dem Übernatürlichen befassen.

In „The Apocalypse of Darkness Warfare“ (Ming zhan lu 冥戰錄) von 韋宗成 Wei Zhongcheng, dem kommerziell erfolgreichsten taiwanischen Comicserien der letzten Jahre, wird Taiwan nach dem Erdbeben von 1999 von Dämonen und übernatürlichen Erscheinungen heimgesucht. Die Polizei von Taipei stellt daher zur Bekämpfung der Plage eine Spezialeinheit auf. Zur Geistesabwehr arbeitet die Spezialeinheit bald mit einem jungen Mädchen mit aussergewöhnlichen Kräften zusammen, das die Reinkarnation der daoistischen Gottheit Mazu, einer populären Ikone der lokalen Volkskultur, ist.

Neu sind auch Kooperationen zwischen Comiczeichnern und der prosperierenden taiwanischen TV-Serien-Industrie. Comiczeichner arbeiten hierfür bei den Szenarien mit den Schreibern von TV-Serien zusammen und neue TV-Serien erscheinen gleichzeitig mit dem dazugehörigen Comic.

Ein Anzeichen für die steigende Bedeutung des taiwanischen Comicschaffens ist auch, dass es taiwanischen Künstlern immer wieder gelingt, beim prestigeträchtigen Japan International Manga Award Preise abzuräumen.

Der jährlich in Taipeh stattfindende Golden Comic Award dient dazu, hervorragendes taiwanisches Comicschaffen auszuzeichnen.

Das Comicmagazin CCC Creative Comic Collection serialisiert ausschliesslich Comics taiwanischer Künstler. Seit kurzem gibt es in Taipei sogar ein eigenes Museum für taiwanisches Comicschaffen: die Taiwan Comic Base 漫畫基地.

Wie auch in Japan, in Korea oder auf dem chinesischen Festland zu beobachten, verlagert sich ein Teil der Comicproduktion zunehmend von Printausgaben ins Netz. Internetplattformen wie Comico oder Line Webtoon stellen Webcomics teils noch kostenlos, teils bereits zahlungspflichtig, zum Lesen auf Handy- oder Computerbildschirmen zur Verfügung.

Taiwanische Comics weisen heute stilistisch und thematisch eine riesige Bandbreite auf, diese reicht von eher dem kommerziellem Mainstream zuzuordnenden Werken bis hin zu künstlerischer Avantgarde.

Manche Zeichner sind stilistisch stark von japanischen Mangas beeinflusst, andere wiederum gehen stilistisch und künstlerisch selbstbewusst eigene Wege. Sie speisen ihre Inspiration aus han-chinesischer oder lokaler taiwanischer Kultur oder es zeigen sich manchmal gar Einflüsse von europäischen Graphic Novels, denen nicht wenige taiwanische Künstler Begeisterung entgegenbringen.

Für europäische Leser gibt es in der Comicnation Taiwan viel zu entdecken.

 

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