Tim im Lande der Sowjets

Am 10. Januar 1929 trat im belgischen Magazin Le Petit Vingtième erstmal ein gewisser Tintin auf, der zusammen mit seinem Hund Milou per Eisenbahn ins Land der Sowjets aufbrach, um seine Leser “absolut authentisch“ über die dortigen Zustände zu informieren. Bereits auf der zweiten Seite des Comicabenteuers wird ein Sprengstoffanschlag auf den wackeren Reporter verübt.

Dies resultiert darin, dass Tintin in Berlin von der dortigen Polizei verhaftet wird und sich eine turbulente Verfolgungsjagd mit den Schupos liefert. Als er in ein Polizeiauto springt und Gas gib, verändert sich Tintins Frisur. Fortan trägt Tintin jene leicht nach hinten schwingende Tolle, die zu seinem Erkennungsmerkmal werden sollte.

Was der bei uns als Tim bekannte Reporter schließlich in Russland an Schandtaten der Sowjet-Obrigkeit erlebt, hat dessen damals 21-jähriger Schöpfer Hergé einem einzigen Buch (Moskau ohne Schleier von Joseph Douillet) entnommen und teilweise eins zu eins übernommen. Die reichlich plumpe antikommunistische Propaganda ist jedoch nur ein sehr kleiner Bestandteil in Hergés 139-seitigen Comic, der in erster Linie eine turbulente Verfolgungsjagd erzählt.

Lange Zeit wurde Tim im Lande der Sowjets nicht wieder neu aufgelegt. Nachdem zahlreiche Raubdrucke erschienen, folgte 1973 es eine offizielle Neuausgabe, und der Comic wurde schließlich als Band 0 in die Albenreihe integriert.

In Frankreich und Belgien erschien 2017 eine sorgfältig kolorierte Edition, die Carlsen mit sechs Jahren Verspätung zum fairen Preis von 25 Euro als schön aufgemachte Sammlerausgabe ohne Vor- oder Nachwort herausgebracht hat.

Seite 99 aus Hergé-Werkausgabe von 1999

Völlig unklar ist jedoch, warum die in früheren Ausgaben enthaltene Seite 99 diesmal weggelassen wurde.

Heiner Lünstedt

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Spirou: Tulpen aus Istanbul

Hanco Kolk ist einer der bekanntesten niederländischen Comickünstler. Doch abgesehen von seiner satirischen Reihe Meccano wurde in Deutschland bisher nichts von Kolk veröffentlicht. Dies ändert sich jedoch gerade schlagartig.

Panini veröffentlicht unter dem Titel Gilles der Gauner in drei Bänden Kolks humoristische Abenteuerserie Gilles de Geus, die in Zusammenarbeit mit Peter de Wit entstand. Carlsen hingegen bringt ein ebenso originelles wie durchgeknalltes Agentenabenteuer heraus, das Kolk 2017 zur belgischen Traditionsserie Spirou beisteuerte.

Cover der Originalausgabe

Kolk hat für die deutsche Ausgabe von Tulpen aus Amsterdam sogar ein neues Cover beigesteuert, dass etwas mehr James-Bond-Nähe suggeriert als der Comic letztendlich bietet. Zwar geht es genau wie im Roman und Film Liebesgrüße aus Moskau darum, in Zeiten des Kalten Kriegs etwas, was den Russen hoch und heilig ist, von Istanbul nach Westeuropa zu schmuggeln.

Doch obwohl zweimal ein Wunderauto mit Schleudersitz eine Rolle spielt, wird in erster Linie eine klamaukige Geschichte erzählt, die als Hauptaufhänger ein Ereignis aus der niederländischen Historie einsetzt. 1560 brachte der Diplomat Ogier Ghislain de Busbecq per Postkutsche in 39 Tagen eine Tulpenzwiebel von Istanbul nach Rotterdam, was noch heute spürbare Folgen hat. Angesichts der 1960 in Rotterdam veranstalteten Floriade wurde diese historische Reise wiederholt.

Cover der Luxusausgabe

Rund um dieses Ereignis hat sich Hanko Kolk eine turbulente Geschichte über einen russischen Wissenschaftler ausgedacht, der die Nachstellung der historischen Kutschenfahrt dazu nutzen will, um in den Westen zu fliehen, was Agenten aller Welt auf den Plan ruft. Doch sehr viel origineller als die Geschichte ist das lässige Facelifting, das Kolk Spirou und Fantasio verpasst hat. Nachdem der große André Franquin die Serie verlassen hatte, sahen die beiden Säulenheiligen des belgischen Comics selten so cool aus wie bei Kolk.

Heiner Lünstedt

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Matthias Schultheiss: Kaputt in der City

Noch bevor Matthias Schultheiss der internationale Durchbruch mit Die Wahrheit über Shelby und der erst kürzlich krönend zum Abschluss gebrachten Serie Die Haie von Lagos gelang, adaptierte er 1984 acht Kurzgeschichten eines damals sehr prominentesten Autors.

In schlichten aber ergreifenden Worten brachte Charles Bukowski Episoden aus dem Leben von Menschen im sozialen Abseits, die versuchten sich durchzuschlagen, ohne sich anzupassen. Bei seinen klaren und deutlichen Schilderungen überschritt Bukowski gelegentlich die Grenzen zur Pornografie.

Interessanter waren für mich jedoch jene Geschichten, in denen sich Bukowski oder sein Alter Ego Henry Chinaski mit fast schon sportlichen Ehrgeiz versucht, trotz seiner unsteten Lebensführung, in den amerikanischen Hinter- und Schlachthöfen schlecht bezahlte aber körperlich stark fordernde Jobs zu absolvieren.

Bei der Beschreibung dieser schweißtreibenden Tätigkeiten – etwas als Schwellenstapler in der nordamerikanischen Wüste oder beim Schleppen von frisch geschlachteten Ochsen – haute Bukowski in dieselbe Kerbe wie seinerzeit Günther Wallraff in seinem erschütternden Reportage-Buch Ganz unten.

In harter schwarzweißer Grafik fing Matthias Schultheiss die direkte aber manchmal ganz schön schräge Erotik, aber auch die Atmosphäre der Scheißjob-Geschichten von Bukowski perfekt ein. Die 1984 in zwei Bänden bei Heyne erschienenen Comicadaptionen haben nichts von ihrem Reiz verloren. Da sie schon lange vergriffen sind, hätten sich viele Comicfreunde über eine Neuauflage gefreut.

Doch der für seine in beeindruckenden Farben direkt kolorierten Comics bekannte Schultheiss hat sich eine große Meisterschaft bei der Nachbearbeitung am Computer erarbeitet. Vierzig Jahre nachdem er die schwarzweißen Bukowski-Seiten zu Papier brachte, garnierte er diese noch unaufdringlich mit genau den richtigen Farbtönen. Dadurch wird die großartige Grafik nicht zugekleistert, sondern die beeindruckende Wirkung der Bilder noch verstärkt.

Heiner Lünstedt

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Die vertriebenen Kinder

Es gab eine Zeit, da waren in der Wetterkarte der westdeutschen Tagesschau keine Ländergrenzen eingezeichnet, und in den Schulen hingen Landkarten, auf denen ganze Landstriche als “zurzeit unter polnischer Verwaltung“ markiert waren.

Dies hing mit einflussreichen Vertriebenen-Verbänden zusammen, die beständig forderten, dass die “Ostgebiete“ wieder “heim ins Reich“ kommen. Daher zuckt es bei mir immer noch ein wenig, wenn es um die zweifelsohne tragischen Schicksale von deutschen Kindern geht, die am Ende des zweiten Weltkriegs aus ihrer osteuropäischen Heimat vertrieben wurden.

Doch der Comic Die vertriebenen Kinder verfolgt keine revanchistischen Absichten, sondern ist ernsthaft an den Lebensläufen von fünf ZeitzeugInnen interessiert, die 1945 gezwungen wurden, ihre im heutigen Tschechien gelegene Heimat zu verlassen und ins zerbombte Deutschland zu ziehen.

Im Vorwort schreibt der Prager Dokumentarist Jan Blažek, der die diesem Comic zugrundeliegenden Interviews führte, dass einer der Befragten von ihm wissen wollte, warum ihn diese Thematik “als Tscheche überhaupt interessiert“. Blažek fiel kein Grund, warum ihm das (als Tscheche) nicht interessieren sollte, und er antwortete: “Mich interessiert das einfach als Mensch.“

Der Schriftsteller und Kinderbuchautor Marek Toman verarbeitete fünf der Interviews zu Comic-Szenarios, die die jungen tschechischen ZeichnerInnen Jakub Bachorík, Magdalena Rutová, Stanislav Setinský, Františka Loubat und Jindřich Janíček in sehr individuellen Stilen zu Papier brachten. Gelegentlich steht der Anspruch einen eigenen Stil zu präsentieren der Lesbarkeit etwas im Wege.

Doch drei der in diesem Band enthaltenen Comicgeschichten gehen wirklich schwer zu Herzen und lassen unweigerlich auch an das Schicksal von zahlreichen heutigen Flüchtlingen denken. Zum Comicfestival München zeigt das Sudetendeutsche Haus vom 1. bis zum 31. Juni 2023 eine Ausstellung zu Die vertriebenen Kinder.

Heiner Lünstedt

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Fix und Foxi – Die Bibliothek der Comic-Klassiker

Nach Bänden zu Popeye, Hägar, Prinz Eisenherz, Strizz oder Nick Knatterton erscheint in einem etwas kleineren Format von 20 x 25 cm eine besonders interessante Ausgabe von Carlsens Reihe Die Bibliothek der Comic-Klassiker.

Das Expertenteam Martin Budde, Volker Hamann, Klaus Wintrich und Gerd Pircher hatte die Qual der Wahl. Auf 300 Seiten präsentieren sie Highlights aus den Comicheften, die Rolf Kauka zwischen 1953 und 1971 an die Kioske brachte.

Die erste Hälfte des Buchs ist natürlich den Fuchs-Zwillingen Fix und Foxi gewidmet, die schon nach zwei Jahren zu den Titelhelden von Rolf Kaukas Comicheft Eulenspiegel wurden und sich zur Freude der Leser mit dem immer sympathischer werdenden, ebenfalls eine Latzhose tragenden, Wolf Lupo herumärgern.

Interessanter als die beiden Hauptfiguren sind jedoch die zahlreichen im Auftrag von Kauka entstandenen Nebencharaktere. Dieser Band enthält auch Geschichten mit dem Raumfahrer Mischa, dem kleinen Maulwurf Pauli, den Westernhelden Tom und Biber und dem von Florian Julino geschaffene Teufelchen Diabolino.

Das schön zusammengestellte Buch beweist, dass sich diese Comicfiguren – sofern sie von Meistern ihres Fachs wie Walter Neugebauer, Branko Karabajić oder Riccardo Rinaldi in Szene gesetzt wurden – immer noch problemlos gegen die seinerzeit ebenfalls in Fix und Foxi veröffentlichten großen belgischen Klassiker wie Spirou, Lucky Luke oder Die Schlümpfe behaupten können.

Heiner Lünstedt

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Benni Bärenstark Gesamtausgabe 3

Die böse Demonia bringt den kleinen Benni Bärenstark durch eine herzergreifende Lügengeschichte dazu, aus einem Museum einen afrikanischen Fetisch zu stehlen. Die Zauberkräfte des Kultgegenstandes setzt Demonia ein, um Prominente zu erpressen. Als Benni herausbekommt, dass seine Naivität für üble Zwecke ausgenutzt wurde, lässt er es richtig krachen…

Dieses in allerbester frankobelgischer Tradition stehende Funnyabenteuer schrieb Schlumpf-Schöpfer Pierre Culliford alias Peyo 1978 zusammen mit Albert Blesteau. Der gebürtige Bretone setzt den Comic in Szene und wurde auf dem Cover des Albums gleichberechtigt neben Peyo genannt.

Doch Der Fetisch ist das einzige Album, das dieser 220 Seiten umfassende dritte Band der Gesamtausgabe von Benni Bärenstark enthält. Präsentiert werden neben der recht netten achtseitigen Weihnachtsgeschichte Spielzeug(en) einige Werbecomics mit dem kleinen Superhelden, die zwischen 1975 und 1978 entstanden sind. Am Rande der Peinlichkeit bewegt sich die Geschichte Benni und Benco, die den kleinen Jungen an der Seite einer orangenen Plastikflasche mit Malz-Kakao-Getränkepulver auf alte Weggefährten treffen lässt.

Natürlich gehört auch so ein erschreckend plumper Reklame-Comic in eine Gesamtausgabe von Benni Bärenstark. Ob es jedoch tatsächlich nötig gewesen wäre, auf mehr als 100 Seiten die Serie Pierrot und die Lampe komplett abzudrucken, darüber kann sich gestritten werden. Diese Geschichten über einen kleinen Jungen und einen noch kleineren Lampengeist, entstanden für die Comicbeilage des Waschmittels Bonux und verfügen nur anfangs über einen gewissen Unterhaltungswert und den liebenswerten Peyo-Touch.

Doch diese Werbecomics verdeutlichen, dass Peyo nicht nur Comicverlage mit Content versorgte, sondern immer stärker sein eigenes Ding durchzog. Passend hierzu bietet das hochinteressante Bonusmaterial dieses Buchs einen Einblick in die Werkstatt von Peyo. Der begnadete Comicschöpfer war seinerzeit hauptsächlich mit der Vermarktung der Schlümpfe beschäftigt. Die Arbeit an den zugehörigen Comics und an Serien wie Benni Bärenstark delegierte an Zeichner wie François Walthéry oder Albert Blesteau.

Letzterer zieht aus seiner Zusammenarbeit mit den Comicmeister ein erschreckendes Resümee: “Peyo habe ich in seinem besten Alter kennengelernt, aber er wirkte wie ein Zombie. Nachmittagsschlaf mit Hilfe von Medikamenten, aufwachen mit Hilfe von Medikamenten. Das war nicht das Leben, wie ich es mir wünsche.“

Heiner Lünstedt

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Manuele Fior: Hypericum

Der im italienischen Cesena geborene Manuele Fior lebte Anfang unseres Jahrtausends eine Weile in Berlin. Dort arbeitete er als Architekt und Illustrator. Er brachte aber auch einige kürzere Comics zu Papier, bevor 2005 seine erste Graphic Novel Menschen am Sonntag erschien. Fior zog weiter nach Oslo und Paris, wo Meisterwerke wie Fräulein Else oder Fünftausend Kilometer in der Sekunde entstanden sind. Heut lebte er mit seiner Familie in Venedig, doch in seinem neusten Comic kehrt er nach Berlin zurück.

Hypericum erzählt zwar anfangs und danach immer wieder in kürzeren Einschüben davon, wie der Ägyptologe Howard Carter 1922 das Grab von Tutanchamun entdeckt, doch hauptsächlich feiert Fior das Berlin seiner Jugendzeit.

Im Zentrum steht die Italienerin Teresa, die in der deutschen Hauptstadt einen Job antritt, auf den sie zielstrebig zugearbeitet hat. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Museums bereitet sie eine Präsentation jener Fundstücke vor, die Carter in der Grabkammer des Pharaos entdeckt hat.

Einer Karriere als Kuratorin steht eigentlich nichts mehr im Wege, außer ein gewisser Ruben. Diesen hat es als Italiener ebenfalls nach Berlin verschlagen, doch im Gegensatz zu Teresa lässt er sich einfach treiben und lebt in den Tag hinein.

Diese Lebensweise fasziniert die junge Frau. Sie zieht zu Ruben in ein besetztes Haus und verliert ihre ehrgeizigen Ziele immer mehr aus den Augen. Fior erzählt eine faszinierende Liebesgeschichte, die Erotik nicht ausspart. Hypericum ist ein Rausch aus Farben und Fakten.

Heiner Lünstedt

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Kate Beaton: Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden

Die kanadische Comickünstlerin Kate Beaton wuchs auf einer idyllischen Insel in der Provinz Nova Scotia auf. Ihr war klar, dass sie nach ihrem Geschichts-Studium in ihrer alten Heimat keine Arbeit finden würde. Da es auch ansonsten nicht einfach ist, sich eine Existenz als Historikerin aufzubauen, beschloss sie einen artfremden Job anzunehmen, um den Kredit, den sie für ihr Studium aufgenommen hatte, zurückzahlen zu können.

Für zwei Jahre zog Beaton westwärts und ging dorthin, wo im großen Masse Raubbau an der Natur vorgenommen wird. In landschaftlich sehr schönen Alberta werden ganze Wälder gerodet und der Boden abgetragen, da sich darunter in Sand gebundenes Erdöl gewinnen lässt. Dies erfordert harte Arbeit, die recht gut bezahlt wird und die unterschiedlichsten Charaktere in die westliche Provinz ziehen lässt.

Kate Beaton ist eine der wenigen jungen Frauen, die versucht sich in der von Männern dominierten Arbeitswelt zu behaupten. Sie arbeitet zunächst an der Materialausgabe und muss feststellen, dass viele der Arbeiter gar nicht zu ihr kommen, weil sie Werkzeug benötigen, sondern um einen Blick auf “die Neue“ zu werfen. Dieses Anstarren, sowie dumme Macho-Sprüche – aber auch sehr viel Schlimmeres! – gehören fortan zu Beatons Alltag.

Ihre Erfahrungen verarbeitete sie zur 420-seitigen Graphic Novel Ducks: Two Years in the Oil Sands. Dabei konfrontiert sie ihre eher niedlich gezeichneten Figuren mit schweren technischen Gerätschaften, die sie akribisch wiedergegeben hat. Die Erzählung lässt durch den stetigen Wechsel zwischen betroffen machenden und eher humorigen Episoden an ein Tagebuch denken, wobei Beaton eher dokumentiert als kommentiert.

Der Comic wurde in den USA zu einem großen Erfolg und fand Aufnahme in die Bestenlisten der New York Times, des New Yorkers, des Time-Magazins und der Washington Post. Ein richtiger Hype brach aus, nachdem Beatons Graphic Novel auf Barack Obamas jährlicher Empfehlungsliste zu finden war, als erster Comic überhaupt!

Heiner Lünstedt

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Garth Ennis: Punisher Collection 4

Mit 700 Seiten ist Paninis Abschlussband der Collection mit den Punisher-Comics von Garth Ennis zwar etwas weniger umfangreich als seine drei Vorgänger ausgefallen. Doch das wuchtige Hardcoverbuch hat es dennoch in sich.

Als Auftakt gibt es mit Roots eine von Joe Quesada kurz aber nicht schmerlos in Szene gesetzte Zahnoperation, die der Mann mit dem Totenkopf an einem Mafiaboss vornimmt.

Anschließend folgt mit Die Auferstehung der Ma Gnucci die Reunion des Dreamteams Garth Ennis und Steve Dillon, die eine wahnwitzige Fortsetzung ihrer unter dem Titel Welcome Back, Frank gestarteten Reihe lieferten. Nachdem Ennis bereits 1995 in der Story The Punisher kills the Marvel Universum von Frank Castle erzählte, gab er drei Jahre später seinen Serien-Einstand und ließ Dillon Comics in Szene setzen, von denen er später meinte: „Die meisten Geschichten waren höchst unwahrscheinlich und wurden mit einem Augenzwinkern serviert. Manchmal hörte man direkt die Looney Tunes-Melodie im Hintergrund.“

Ab 2003 beschritt Ennis neue Wege, seine Geschichten über Frank Castle hatten jetzt einen deutlich realistischeren und ziemlich grimmigen Grundton. Doch 2009 ließ er es zusammen mit Dillon noch einmal richtig krachen. Im Zentrum steht die bereits zweimal vom Punisher recht endgültig abservierte Mafiapatin Ma Gnucci, die ihre kriminellen Geschäfte fortführt.

Auch der dünkelhafte Vigilant Elite, den der Punisher ebenfalls das Lebenslicht ausgeblasen hatte, beginnt wieder damit, alles abzuschlachten, was er für Abschaum hält. Unterstützung erhält der Punisher von der hartgesottenen New Yorker Polizistin Molly von Richthofen. Die Erklärungen warum Elite und vor allem Ma Gnucci immer noch herumspuken sind herrlich aberwitzig, die Gewalttätigkeiten ebenfalls und eigentlich könnte es ewig so abgefahren weitergehen!

Doch Ennis nutzte seine weiteren Punisher-Comics dazu, um auf einem oft überraschend hohem Niveau, das fortzuführen, was er bereits ab 2001 mit seinen War Stories begonnen hatte. Ihn interessieren Superhelden nicht wirklich und sehr viel lieber erzählt er an realen Ereignissen orientierte Geschichten, die sich teilweise recht blutrünstig, aber auch sehr sorgfältig recherchiert mit dem Thema Krieg beschäftigen. Mit dem aus Kroatien stammenden Goran Parlov fand er hierfür den optimalen Zeichner. Dieser kann Kampfhandlungen explosiv in Szene setzen, lässt aber auch Dialogszenen spannend aussehen und teilt die Vorliebe von Ennis für exakt wiedergegebene Kriegsgerätschaften. Einige Seiten im Anhang dieses Buchs belegen, dass Parlov kein Problem damit hat, Seiten neu zu zeichnen, wenn er Propeller oder Fahrwerke von Flugzeugen falsch dargestellt hat.

2018 entstand mit der sechsteiligen Miniserie Platoon eine Fortsetzung zum Punisher-Comic Valley Force, Valley Force, der in Band 3 der Garth Ennis Punisher Collection enthalten ist. In einer Rahmenhandlung interviewt der Journalist Michael Goodwin im heutigen New York einige Vietnam-Veteranen, die Frank Castle ihr Leben verdanken. Erzählt wird von den ersten Kriegseinsätzen des noch unerfahrenen Offiziers Castle. Dieser findet sich schnell zurecht und hat – wenn es darauf ankommt – noch dreckigere Tricks drauf, als seine Vorgesetzten. Am Anfang der Geschichte ist Castle ein Team-Player, der sich verantwortungsbewusst für seine Männer einsetzt, doch das bleibt nicht lange so…

Interessant ist Platoon auch dadurch, dass Ennis und Parlov die Gegenseite ebenfalls zu Wort kommen lassen. So wird gezeigt, wie Michael Goodwin den äußerst kultivierten nordvietnamesischen Veteranen Giap interviewt. Dessen Fazit ist: “Die Vietnamesen kämpften für ihr Land und die Amerikaner für nichts und ohne zu wissen, warum sie es tun.“ Doch Ennis lässt den alten Mann noch ergänzen: “Nein, stimmt nicht, die Besten kämpften füreinander“. Damit benennt Garth Ennis wohl auch den Hauptgrund, warum er immer wieder Kriegsgeschichten erzählt.

Es folgt die Miniserie Sovjet in der Ennis den Punisher mit einer russischen Variante seiner selbst konfrontiert. Im Gegensatz zu Castle war Valery Stephanovich schuld daran, dass er seine Familie verloren hatte. Der Militärdienst in Afghanistan hatte ihn traumatisiert und in den Alkohol getrieben, was in einem Unfall mit tödlichem Ausgang resultierte. Sein ehemaliger Vorgesetzter Pronchenko war dafür verantwortlich, dass – abgesehen von ihm – alle Kameraden seiner Einheit brutal ermordet wurden. Als Stephanovich dies herausfand, bekam sein Leben wieder einen Sinn…

Konstantin Pronchenko hatte die Einheit an die Mudschahedin verraten und ist nach dem Ende des Afghanistan-Kriegs in den USA zu einem mächtigen Paten der Russenmafia in New York aufgestiegen. Dabei hat er sich niemals selbst die Finger schmutzig gemacht, ja noch nicht einmal den von ihm angeordneten Gewalttaten beigewohnt. Als sich Valery Stephanovich aufmacht, um dies zu ändern, findet er im Punisher einen ebenso verständnisvollen wie tatkräftigen Verbündeten.

Geschickt wechselt Ennis die Zeitebenen, erzählt realitätsnah vom Schicksal der einfachen russischen Soldaten im Afghanistan-Krieg. Auch der Ehefrau des Gangsters Pronchenko verpasst er eine interessante Vorgeschichte und das melancholische Ende wirkt noch lange nach.

Dies ist auch dem US-Zeichner Jacen Burrows (Neonomicon) zu verdanken, der mit Ennis bereits bei der ersten Crossed-Geschichte zusammenarbeitete. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch noch die von Paolo Rivera sehr ansprechend im Stile von russischer Propaganda-Kunst erstellten Titelbilder der aus sechs Heften bestehenden Miniserie.

Die letzten dreizehn in diesem Sammelband enthaltenen Hefte zeichnete wieder Goran Parlov. Im Zentrum der 2012 und 2013 veröffentlichten Storylines Kriegsgeschichten und Operation Barracuda steht nicht der Punisher, sondern der ebenfalls vom Krieg geprägte Marvel-Character Nick Fury. Bereits 2001 und 2006 hatte Garth Ennis Geschichten vom zynischen Supersoldaten mit der Augenklappe. Diese hätten sehr gut in diese Collection gepasst, auch wenn es keinen Bezug zum Punisher gibt.

Dies ist bei Operation Barracuda der Fall, denn hier spielt nicht nur der Vietnamese Giap eine wichtige Rolle, sondern in drei Heften wird auch davon erzählt, wie Fury und Castle gemeinsam in den Krieg ziehen. Insgesamt gehört die Miniserie My War Gone By zu den besten Geschichten von Ennis. Der Comic beginnt 1954 in Indochina. Kurz vor dem Ausbruch des Vietnamkriegs trifft der abgebrühte Nick Fury dort auf den jungen idealistischen Soldaten George Hatherly und auf die temperamentvolle Botschaftsangestellte Shirley Defabio.

In der im Jahre 1999 endenden Geschichte wird hauptsächlich davon erzählt, wie der nur inmitten diverser Kriege richtig aufblühende Fury immer er selbst bleibt. Zugleich ist zu erfahren, dass es das Schicksal nicht immer gut meint mit George, dem Vater einer beständig wachsenden Familie, und Shirley, die sich zwar stark zu Fury hingezogen fühlt, aber dennoch einen korrupten Politiker heiratet.

Diese unwiderstehliche Mischung aus brutaler Action, zu Herzen gehender Soap und lebendig erzählten Geschichtsunterricht lässt hoffen, dass Garth Ennis recht bald zum Punisher oder zu Nick Fury zurückkehrt.

Heiner Lünstedt

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Punisher: Mörderische Götter

Auch Paninis zweiter Band mit dem von Jason Aaron geschriebenen Punisher-Neustart wirkt zwiespältig. Doch immerhin wurde hier nicht versucht, den brutal seinen Rachefeldzug durchziehenden Marvel-Charakter Disney-kompatibel zu machen. Frank Castle, aber auch seine Gegenspieler, töten weiterhin im selben Maße, wie einst in den Comics von Garth Ennis und Steve Dillon.

Doch statt auf grimmigen Sarkasmus setzt Aaron auf Fantasy-Elemente, die nur bedingt zum zuvor eher in unserer Realität als im Marvel-Universum verankerten Punisher passen. Frank Castle muss sich weiterhin mit dem Ninja-Kults Die Hand, den einst Frank Miller für eine Daredevil-Serie erfand, herumschlagen. Der zweifelhaften Organisation ist es gelungen, die ermordete Familie des Punishers zu revitalisieren.

Wenn es nur diesen vom Star-Wars-Zeichner Jesús Saiz routiniert in realistischen Bildern in Szene gesetzten Part der Story gebe, könnte man den Neustart getrost als Blödsinn abtun. Doch in einem noch stärkeren Maße als in den ersten vier Heften arbeitete Aaron wieder teilweise ganz schön in die Tiefe gehende Rückblenden ein, die Paul Azaceta (Outcast) in einem experimentellen Stil realisiert hat.

Hier wird von einem Frank Castle erzählt, der schon als Jugendlicher Vergnügen an Gewalttaten hatte und bereits traumatisiert war, bevor seine Familie im Central Park von Gangstern ermordet wurde. Wenn hier aber auch ein Castle gezeigt wird, aus dem durch die Liebe zu seiner Frau Mary und den beiden Kindern auch ein treusorgender Vater hätte werden können, dann ist das sehr viel beeindruckender als das Ninja-Gemetzel der Haupthandlung.

Heiner Lünstedt

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